Samstag, 9. Februar 2013

Ivo Lutions Unzufriedenheit

Ivo Lution: Über die Unzufriedenheit.
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für unsere Evolution ist die eigene Unzufriedenheit. In der Unzufriedenheit liegt der Anspruch auf ein besseres Leben. Was ist, wenn wir uns, wie seit langem befürchtet, tatsächlich „im falschen Film“ befinden? Wenn unsere Bestrebungen, wie z.B. ein besserer Mensch zu werden, völlig aussichtslos sind? Wenn wir im Grunde überhaupt keine Chance besitzen, vor dem Jüngsten (oder eigentlich Ältesten?) Gericht – oder in Karlsruhe – ein weiterführendes Element unseres Leben anzugeben? „Ich habe zumindest nachgedacht“ wird nicht reichen. Dass wir kein Geld verdient haben, dafür aber singen, malen oder schreiben konnten, dürfte uns auch nicht weiterbringen. Dass wir uns vermehrt haben, brächte ebenfalls nichts; das könnte einem sogar zur Last gelegt werden. Hat sich die Evolution vielleicht doch mit den Indern und deren Karma geeinigt? Das Leben als ein einziges großes Mißverständnis? Unser Hirn ein Schmetterling und unsere Lauferei zum Supermarkt jener Weg, der das Ziel sein soll? Und die wirklich einzige menschliche Freude ist in Indien in Stein gehauen und beinhaltet mindestens fünfzig verschiedene Stellungen? Und was dabei rauskommt ist im Grunde unbrauchbar? Fragen über Fragen. Wer sagt uns endlich die Wahrheit? Oder ist sie es etwa, die plötzlich neben dir auf dem Kneipenhocker sitzt und dir so nebenbei erzählt: So, noch ein Bier und du bist echt hin. Ist das alles, wirklich alles, was sie einem mitzuteilen hat? Dass es niemanden gibt (gute Freunde sind inzwischen so gut wie ausgestorben), der einem schwört, dass alles in Ordnung ist, was man tut, ist ein Mangel und eine der Ursachen der Unzufriedenheit. Außerdem wirft einen allein der Gedanke um, du könntest betrogen worden sein, und dein echter Vater hat irgendwo auf einer karibischen Insel einen ganzen Staat gezeugt, dich jedoch geflissentlich in seinen Memoiren vergessen. Oder aber du bist bei der Geburt verwechselt worden (weder Haut- noch Augenfarbe passten). Wo gehören wir also wirklich hin? Womöglich in eine Jury, die über andere zu urteilen hat? Übrigens herrscht ausgebreitete Unzufriedenheit auch über zu wenig Schlaf. Was wenn die Eizellen oder das Sperma unserer Erzeuger voll von Anti-Einschlaf-Genen waren? Und das erste, worüber dich deine unzufriedene Mutter dann aufklärt ist: „Was sollten wir denn tun? Wir konnten ja nicht einschlafen“. Evolution pur.